Was ist der Unterschied zwischen Reisen und Urlaub? Für mich ganz klar: Urlaub ist ein Ort. Reisen ist eine Bewegung. Es geht bei meiner Reise nicht darum, an möglichst jedem Ort gewesen zu sein und dort alles gesehen zu haben. In Ländern wie Kanada wäre das auch ein ziemlich stressversprechendes Unterfangen. Kanada ist schlappe 27 Mal so groß wie Deutschland. Ich habe einige ausgewachsene Ostküsten-Kanadier kennengelernt, die zum ersten Mal British Columbia besuchen. Das liegt daran, dass die Entfernung Montreal - Vancouver in etwa genauso weit ist wie die Distanz Montreal - London. Und Flüge nach Europa sind oftmals günstiger… Meine Devise lautet also: Ruhig bleiben, Gang rausnehmen und in aller Sorgfalt und Gemütlichkeit ein paar schöne kanadische Reise-Rosinen rauspicken. Nach "Slow Food" und "Slow Television" geht der Trend ganz klar zum "Slow Traveling": Deswegen entscheide ich mich, den Zug von Jasper zurück nach Vancouver zu nehmen. Für die 850 Kilometer lange Strecke werden bequeme 20 Stunden Reisezeit angesetzt. Die Fahrt führt entlang der wundervollen Rocky Mountains. Wir durchstreifen gewaltige Gletscher, kilometerlange Flussläufe und smaragdfarbene Seen. Direkt neben den Schienen sehe ich einen Schwarzbären. Mit der Anmut eines Buddhas sitzt er auf seinem flauschigen Derriere und schaut der silbernen, dampfenden Blechbüchse zu, wie sie sich durch seinen Wald schiebt. Dabei könnte man fast meinen, dass der Buddha-Bär über den Sinn des Lebens grübelt. Oder er denkt sich einfach: "Scheiß Feierabendverkehr!" Um nicht mehr als nötig zu stören, drosseln die Techniker die Geschwindigkeit des Zugs und wir rollen ganz langsam an dem kanadischen Ureinwohner vorbei. So viel Slow Motion animiert dann auch mein Zugabteil, über das Leben im Großen und Ganzen zu sinniert. Da Kanadier auf eine sehr unaufdringliche Art und Weise äußerst offene und mitteilsame Mensch sind, weiß ich ganz schnell über die drei Ehen meiner 80-jährigen Mitfahrerin Bescheid. Ich lerne, was sie als Kind am liebsten gegessen hat, und ich erfahre von ihrer Freundin, die bei der Arbeit in einem Camp von einem Bären getötet wurde. Von hier ist der Weg nicht weit zu wirklich philosophischen Ansichten wie "Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung" oder "Reinkarnation ist heutzutage auch nicht mehr das, was sie mal war". Bei so viel geistreichen Schwingungen gebe auch ich mich meinen Gedanken hin und überlege, ob mich das Reisen verändert. Die Antwort darauf ist ein glasklares Jein. Ich möchte nach meiner Rückkehr von der Reise nicht auf Bäumen leben, in den örtlichen Schützenverein eintreten oder Eisprinzessin werden. Der ganz große "Change" bleibt mit Sicherheit aus. Reisen hat auf mich eher den Effekt einer großen inneren Abstaub-Aktion. Im Laufe des Lebens legt man sich ein ordentliches Sortiment Werte und Glaubenssätze zu und räumt sie in sein inneres Regal ein. Die Reise gibt mir den Raum und die Zeit, alles, was sich in meinem Regal angesammelt hat, rauszunehmen, von jeder Seite anzuschauen, abzustauben und an eine passende Stelle zurückzustellen. Oder eben auszusortieren. Ich glaube, dass mich dieser Frühjahrsputz meines Lebens im Großen und Ganzen nicht verändert. Das Regal und der Großteil des Inhalts bleiben gleich. Aber durch das Abstauben sehe ich die Inhalte meines Regals und ihre Konturen klarer und deutlicher - geschärft. Da ich, wie man weiß, ein sehr ordentlicher und organisierter Mensch bin, macht mich diese Abstaub-Aktion extrem froh, gelassen, glückselig. Und müde. Nach 10 Stunden Schlaf im Wechsel zwischen Lotossitz und Embryonalstellung - von anderen Reisenden werde ich für dieses ausgeprägte Schlaftalent in gleichen Teilen bewundert wie verachtet - wache ich am Morgen kurz vor Vancouver auf. Ein letzter Zwischenstopp, bevor es nach Asien geht. Nach so viel Training von Körper und Geist das perfekte Reiseziel. Oooommmm.
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Karsten (Dienstag, 03 Mai 2016 09:59)
"Reinkarnation ist heutzutage auch nicht mehr das, was sie mal war" Haha, stimmt. In meinen früheren Leben ist es mir auch deutlich leichter gefallen, an Reinkarnation zu glauben. :-)
Viel Erfolg beim Abstauben - aber natürlich auch dabei, neue Souvenirs für's Regal zu sammeln.
Brudi
Rike (Dienstag, 03 Mai 2016 20:22)
Der philosophische Streifzug durchs Regal klingt extrem spannend - egal ob Ausschussware oder Neu-Sortierung - die Kenntnis über einen selbst und was wirklich glücklich macht ... macht wohl glücklich :)
Was das Schlaftalent angeht, könnte ich wohl mal 'Nachhilfe' gebrauchen!
Nici Gottschalck (Sonntag, 05 Juni 2016 10:54)
Was für ein herzlicher Blogeintrag!!! :]